Dienstag, April 04, 2006

Bürokratiekampftag "Carla Baars"


Ich wusste schon gleich heute morgen, dass es ein etwas anderer Tag werden würde. Als ich am Oktogon in die Tram steigen wollte, lief ich an Punks vorbei, die johlend mit riesigen Orangenen Fidesz-Schildern dastanden und bei jeder roten Ampelphase damit vor die wartenden Autos liefen. (Siehe Bild. Und bei der Gelegenhiet eine Info: wenn man auf die Bilder klickt, werden sie GROSS!) Was wollten diese Typen damit bezwecken? Das waren waschechte Punks, und die Fides ist hier im Prinzip so wie die CDU. Mit dem Unterschied, dass Angela Merkel dezent auf Terminschwierigkeiten verwies, als Viktor Orban mal anfragen liess, ob sie im Wahlkampf nicht mal mitmischen würde als ausländischer Ehrengast. Der Grund: die Fidesz ist ziemlich ins national-populistische abgedreht in der Opposition. In dieser Woche ist Viktor Orban großflächig auf dem Titelbild eines augenscheinlich eher rechten Magazins mit dem sinnvollen Satz: "Es muss einen Ort geben, an dem nichts wichtiger ist, als die Ungarn." Hallo? Sinn?

Ungarn ist auf jeden Fall ein Ort, an dem wenig wichtiger ist als die Bürokratie. Und das habe ich heute am eigenen Leibe erfahren. Eigentlich meinte Tamás gestern nur, dass ich heute meinen Arbeitsvertrag unterschreiben sollte. Was ich da noch nicht ahnen konnte: ein Bürokratiemarathon kam auf mich zu. Bürokratie passt zu Ungarn wie die Faust aufs Auge. Für jeden noch so kleinen Mist braucht man zwei Anträge, vier Belege (Originale und Kopie) und muss sieben Mal unterschreiben. Auf dem Weg in die Univerwaltung erklärte mir Tamás dann, dass Ungarn zwar bürokratische Regeln liebt, aber: diese Regeln sind meistens so kompliziert, dass man sie gar nicht einhalten kann. Deshalb gibt es immer einen Weg, unüberwindbare Hürden zu umgehen. Ein Beispiel: statt einer beglaubigten Übersetzung der Bescheinigung des Finanzamtes Berlin-Kreuzberg, dass ich in Deutschland steuerpflichtig bin, hat Tamás einfach eine eigene Übersetzung beigelegt. Der Schelm! Das ist zwar gegen die Regeln, aber eine offizielle Übersetzung hätte nochmal eine Woche gedauert... Die Stationen meines Bürokratiekampftages seht ihr auf dem Bild links. Die 0 steht dabei für mein Büro. (Informatiker fangen immer bei Null an zu zählen.) Ich musste dabei bei jeder Station, von der ich letztendlich irgendeinen Wisch bekommen habe, den Mädchennamen meiner Mutter nennen. Das ist hier in Ungarn so üblich. Um so merkwürdiger, dass Frauen ihren Namen bei der Hochzeit ganz und gar aufgeben. (Auch den Vornamen!) Deshalb also: Bürokratiekampftag "Carla Baars".

1. Fakultätsverwaltung, Campus (10:45)

Das war noch das einfachste. Ich hatte ja alle Papiere dabei. Wir mussten nur 10 Minuten warten, bis die Sekretärin fertig telefoniert hatte, dann unterschrieb ich ungefähr viermal, die Frau bekam 5 Dokumente und gab mir 7 andere zurück. Vorsorglich hatte ich mir noch eine Dokumentenmappe mitgenommen, in einer Art Vorahnung. Wenn mir der Packen auf der Petőfi-Brücke vom (ganz schön starken) Wind aus der Hand gerissen worden wäre, dann hätte ich gleich hinterherspringen können. A propos Brücke: die Donau läuft bald über. Sie steht schon wieder höher als gestern. Ja, das ist eine Ampel in der Bildmitte.

2. Personalabteilung der Uni, Szerb utcá (11:45)

Weil die Tram wegen Hochwasser nicht fuhr, sind Tamás und ich auch den Rest gelaufen. Auf dem Foto seht ihr Tamás in der Univerwaltung. Unterwegs hat er mir dann erklärt, was das Nash-Williams-Theorem ist, und warum er es auf Hypergraphen verallgemeinern will. Abgefahren. In der Univerwaltung war es schon leicht Kafkaesk. Uns hat eine reizende ältere Dame bedient, in deren übergroßer Amtsstube permanent ein uralter, aber umso größerer Nadeldrucker ratterte und irgendwas auf so eine riesige Endlospapier-Rolle ausdruckte. Zwei Probleme kristallisierten sich heraus: a) die Uni überweist nicht ins europäische Ausland, und b) ich brauche eine ungarische Steuernummer. Wegen a) wurde allerdings noch die Chefin (Hauptsachbearbeiterin?) konsultiert, die wiederum ihren Chef anrief. Ich habe nebenbei Tamás - der das Wort für die antragstellende Partei führte - nachdrücklich und wiederholt auf Englisch zugezischelt, dass wir doch hier in der EU sind. Ob Ungarn dafür wirklich reif war? Dass er insistieren soll, das muss gehen! Dass ich die Uni auf Einhaltung europäischer Verwaltungsvorschriften verklage... er meinte nach einer Weile nur lapidar, dass das hier nicht so läuft. Da war ich dann leise. Ich ärgerte mich zuerst sehr, dass ich jetzt auch noch ein ungarische Konto eröffnen musste. Was ich aber nicht wusste: das würde das Highlight des heutigen Tages werden. Dazu unten mehr.

3. Meine Wohnung, Teréz körut.

Okay, hier habe ich nur kurz was gegessen und außerdem meinen Reisepass und Mietvertrag mitgenommen. Das zählt nicht wirklich. Ich brauchte aber auch eine Stärkung, denn Tamás war wieder ins Büro zurückgefahren, und ich war ab sofort auf mich allein gestellt. Für den Fall von unüberwindbaren Problemen hatte ich immerhin seine Handynummer dabei.

4. Kasse der Sozialversicherungsanstalt, Teve utca (13:15)

Das war mal ein modernes Amt! Die Wartenummernsysteme sind übrigens überall in Ungarn vorbildlich: man zieht die Nummer meistens an einem ultramodernen Touchscreen-Gerät, wo man gleich eines aus mehreren möglichen Anliegen auswählt. Lange warten musste ich auch nicht. Die Frau bekam ungefähr vier Dokumente, kopierte meinen Reisepass und meinen Personalausweis (die Kopie musste ich unterschreiben) und fertigte mir dann meinen Sozialversicherungsausweis an. In der Zeit musste ich ein Formular ausfüllen (und zweimal unterschreiben) - unter anderem war wieder der Mädchenname meiner Mutter gefragt. Die Ungarn sind sowas von verliebt in Unterschriften. Neulich habe ich gesehen, wie der Prof hier Reiseabrechnungen abgezeichnet hat. Das ist nicht nur eine Unterschrift, nein! Da wird jeder einzelne Beleg unterschrieben. Jedes BVG-Ticket. Alles. Krank!
Zum Glück haben die Damen dort statt meiner ungarischen Meldebestätigung meinen deutschen Ausweis akzeptiert (ob das ein kleiner Umweg um die Vorschriften oder legal war, weiß ich nicht). Ich konnte dann also nach nur ca. einer halben Stunde mit Sozialversicherungskarte wieder abziehen. Ich war mir nur etwas unsicher, ob ich eventuell aus Versehen zuviele Dokumente dort gelassen hatte und bei den nächsten Stationen zuwenig hätte.

5. Finanzamt Budapest Süd, Haller utca (14:30)

Davor hatte ich etwas Schiss, den Finanzämter sind ja in Deutschland schon nicht nett, und ich wußte nur, dass ich eine Steuernummer brauchte, aber nicht, welche Dokumente dazu nötig sind. Hier habe ich immerhin den folgenden ungarischen Dialog mit dem Pförtner zustande bekommen:
- Guten Tag, sie wünschen?
- Guten Tag. Ich benötige eine Steuernummer.
- Da müssen sie morgen wiederkommen, die haben heute schon zu. Sie müssen aber in das andere Gebäude, in der Vapukas út, um die Ecke.
- Wie sind denn die Öffnungsschulden dort?
- Von Viertel neun bis fünf.
- Vielen Dank, auf Wiedersehen!
- Wiedersehen.
Okay, dass mir statt nyítvartartás, Öffnungszeiten, nyítvatartozás, Öffnungsschulden, leichter über die Lippen ging ist doch ein verzeihlicher Lapsus. Er hatte es ja verstanden. Und es kam mir auch komisch vor, so dass ich - kaum aus der Tür raus - nochmal im Wörterbuch nachgeschaut habe.

6. K&H Bank Filiale, Ferenc körut (15:00)

Also, ein Konto musste ich eröffnen. Wer hätte geahnt, dass das das beste am ganzen Tag würde? Mich bediente Zsófia, und das ist eine sehr, sehr gute Ungarin gewesen. Sie hat während des ganzen Vorganges nur einmal ein englisches Wort benutzt (money laundry, um zu erklären, wogegen ich den 12. Wisch unterschreiben musste). Der Rest ging komplett auf Ungarisch! Wenn ich irgendetwas nicht verstanden hatte, hat sie das meist schon selber gemerkt, und es mir nochmal in einfacheren Worten erklärt. Das war so geil! Es waren auch nur zehn Zettel, die ich unterschreiben musste, und zwei Dokumente, die sie sehen wollte (Pass und Führerschein). Die Zettel natürlich in doppelter Ausführung, also zwanzig Unterschriften. Und auch sie fragte nach dem Mädchennamen meiner édesanyám. Das ist so niedlich im Ungarischen, denn édes heißt "süß", und man nennt jemandes Mutter dann "süße Mutter". Das heißt, Zsófia sagte wörtlich zu mir: "Bitte nennen sie mir den Namen ihrer süßen Mutter."

Mit einer Mappe voller neuer Dokumente und um einige Dokumente erleichtert zog ich also zufrieden und euphorisiert ob der jüngsten Sternstunde meines Ungarisch-Gebrauchs über die Petőfi-Brücke und die rauschend überbordende Donau zurück ins Büro. Morgen muss ich nur noch ins Finanzamt, und dann, wenn die Steuernummer da ist, nochmal zur Personalstelle. Und morgen hab ich wieder Ungarisch bei Zita. Kann's gar nicht erwarten, ihr von meinem Durchbruch zu erzählen!